Heutzutage trifft man immer häufiger auf Menschen, die Folgendes sagen:
· „Ich bin für Spiritualität, aber nicht für Religion.“
· „Ich habe kein Problem mit Gott, aber ich habe ein Problem mit der institutionalisierten Religion.“
· „Ich kann Gott auf meine Art und Weise verehren, religiöse Rituale kommen mir sehr unnatürlich vor und sind überholt.“
Verschiedenen Umfragen zufolge scheinen diese spirituellen oder religiösen Neinsager, wie sie von einigen genannt werden, auf dem Vormarsch zu sein. Nichts deutet darauf hin, dass ihre Zahl in nächster Zeit abnehmen wird. Wie lässt sich dieses Phänomen erklären? Warum wehren sich die Menschen so vehement gegen den Begriff der Religion im Allgemeinen und nicht nur gegen bestimmte Religionen, die sie verabscheuen? Es werden mehrere Gründe genannt, wie zum Beispiel:
- Ein wachsendes Gefühl der Autonomie. Vielen wird beigebracht, „für sich selbst zu denken“, auch wenn dies dazu führt, dass sie sich von Tradition und Religion lösen. Da sich immer mehr Menschen ermutigt fühlen, ihre Überzeugungen zu hinterfragen, wenden sich viele von der Religion ab.
- Soziale Faktoren. Einige Studien haben einen Zusammenhang zwischen der Befürwortung nicht-religiöser Weltanschauungen und der Geburt in einer gemischt-religiösen Familie bzw. der Freundschaft mit „spirituellen Neinsagern“ und der Heirat mit nicht-religiösen Ehepartnern usw. aufgezeigt. Dies rückt den bekannten Hadith des Propheten Muhammad ins rechte Licht: „Der Mann hat den Charakter seines engsten Freundes. Drum soll jeder von euch sehen, wen er sich als engsten Freund nimmt!“ (Abû Dâwûd).
- Politische Polarisierung. In der Vergangenheit hat die Religion die Menschen zusammengeführt und politisch definiert, aber das ist nicht mehr in demselben Maße der Fall. Daher vernachlässigen die Menschen die Religion und messen stattdessen den Faktoren, die zur politischen Mobilisierung beitragen, eine größere Bedeutung bei.
- Suche nach Authentizität. Viele Menschen möchten sich nicht auf eine bestimmte Religion festlegen lassen, da sie sich dadurch weniger authentisch und „sich selbst treu“ fühlen. Stattdessen möchten sie einen Weg wählen, der sie auf einer persönlichen Ebene voll und ganz anspricht.
- Ein zunehmendes Misstrauen gegenüber Institutionen. In einigen Ländern, wie z. B. den Vereinigten Staaten, entspricht das Misstrauen gegenüber organisierten Religionen mit klerikalen Systemen dem wachsenden Trend einer allgemeinen Skepsis gegenüber Institutionen wie der Regierung, den Medien, Unternehmen usw.
- Höhere Bildung. Einige sind der Ansicht, die zunehmende Bildung führe dazu, dass viele Menschen Religion als weniger bedeutsam für ihr Leben ansehen – vor allem, wenn sie zum Studium der Wissenschaften neigen, da der Verstand der Menschen stärker darauf ausgerichtet ist, nicht blind an alles zu glauben und das Übernatürliche abzulehnen.
- Intellektuelle Neugierde. Manche Menschen fühlen sich nicht von einer einzigen Religion vertreten und ziehen es vor, mit verschiedenen Ritualen aus einer Vielzahl von Religionen zu experimentieren, bis sie das finden, was für sie funktioniert und mit ihrer „spirituellen Persönlichkeit“ übereinstimmt.
- Verlagerung des Schwerpunkts auf humanistische Konzepte. Die Aufklärung förderte bestimmte Aspekte der Religion, darunter Begriffe wie Moral, weltlicher Fortschritt und freier Wille, während andere verworfen wurden. Dies führte dazu, dass man Riten und die Beschäftigung mit dem eigenen Schicksal im Jenseits als rückständig oder aus anderen Gründen als irrelevant ansah.
- Egalitäre Anliegen. Viele Menschen, die von egalitären Idealen angetrieben werden, kämpfen mit der Idee eines klerikalen Systems, das vorgeblich darauf abzielt, den Klerus als geistig überlegen zu betrachten.
Andere Gründe sind die Versuchung, sich dem zunehmenden Trend zur Religionslosigkeit anzuschließen, der Kontakt mit einer größeren kulturellen Vielfalt, die säkulare kulturelle Prägung, die Heuchelei, die bei einigen „religiösen“ Menschen zu beobachten ist, moralische und intellektuelle Unstimmigkeiten mit religiösen Doktrinen usw.
Ich möchte all diese Bedenken nicht von vornherein als völlig unangemessen abtun. Zweifellos sind die Erfahrungen mit den Religionen von Mensch zu Mensch unterschiedlich, und manche Beschwerden über bestimmte Religionen mögen berechtigt sein. Dennoch denke ich, dass einige der angesprochenen Themen nicht allzu ernst genommen werden sollten. Da ist zum Beispiel die Sorge, die die Menschen mit heuchlerischen religiösen Menschen haben. Sicherlich sind aber nicht alle religiösen Menschen heuchlerisch, und die Religionen lehren auch nicht, es zu sein. Daher wäre es unfair, Religionen auf der Grundlage ausgewählter Anhänger zu beurteilen, wenn diese sich nicht einmal streng an die Gebote ihrer Religion halten.
Nehmen wir auch Unabhängigkeit und intellektuelle Neugier als weitere Beispiele. Unabhängigkeit und intellektuelle Neugier durch eigenes Denken müssen nicht dazu führen, dass wir die Religion gänzlich ablehnen. Man kann ein völlig unabhängiger und wissbegieriger Mensch sein und dennoch zu einer anderen Religion konvertieren oder sogar in seiner derzeitigen Religion selbstbewusster werden. Nicht jeder, der an der Religion festhält, in die er hineingeboren wurde, ist zwangsläufig ein blinder Anhänger dieser Religion. Auch ist nicht jeder, der die Religion zugunsten religionsfreier Alternativen aufgibt, zwangsläufig ein „Freidenker“.
Außerdem bedeutet das Festhalten an einer Religion nicht, dass wir weniger authentisch und uns selbst treu sind. Im Islâm gibt es zum Beispiel eine reiche und breite Palette an wissenschaftlichen Abhandlungen, die eine Vielzahl von Meinungen in den unterschiedlichsten Disziplinen anbieten, aus denen der Muslim frei wählen kann. Ein Muslim kann sich immer noch authentisch fühlen, wenn er sich für eine der verschiedenen gültigen religiösen Meinungen entscheidet, die ihm zur Verfügung stehen, auch wenn er dies innerhalb der breiten Parameter des Islâm tut.
Außerdem ist nichts anormal an einem religiösen Menschen, der an das Übernatürliche glaubt, da die Wissenschaft als Erkenntnisinstrument auf die Beurteilung der natürlichen Welt beschränkt ist. Dies gilt ungeachtet der positiven Rolle, die die Religion als Ergänzung zur Wissenschaft spielen kann. Unabhängig davon, was man aufgrund persönlicher Erfahrungen mit der Religion im Allgemeinen beanstanden mag, muss man diese Bedenken gegen die vielen positiven Vorteile der Religion abwägen. Auf einige dieser Vorteile werden wir im Folgenden eingehen.